Immer höhere Standards fordern, aber dafür nicht zahlen wollen: Ist das verrückt? Will man wissen, wie die Verbraucher ticken, muss man Psychologen fragen.
Für Landwirte – insbesondere für Tierhalter – ist es die »Eine-Million-Euro-Frage«. Für Marktforscher hingegen ein lange bekanntes Phänomen: In Umfragen erklären mehr als 80 % der Verbraucher, ihnen sei Tierwohl wichtig. Immerhin noch 20 bis 30 % sagen sogar, sie würden für »tierwohlgerecht« erzeugtes Fleisch mehr Geld ausgeben. Diese guten Vorsätze sind aber meist vergessen, wenn dieselben Verbraucher fünf Minuten später die Fleischtheke des Supermarktes erreicht haben. Dann spielt in der Regel der Preis die entscheidende Rolle. Schizophren ist das, oder?
Wer direkt nach Einstellungen fragt, bekommt »sozial erwünschte« Antworten, die meist der Realität kaum standhalten. Wir kennen das aus anderen Bereichen. Wer wäre nicht prinzipiell für den Klimaschutz? Aber das neue SUV mit 15 l Spritverbrauch, das wird man sich wohl doch noch leisten dürfen! Im Bereich der Erneuerbaren Energien haben die Landwirte gemerkt, wie wenig stabil Einstellungen der Bürger sind, wenn sie die konkrete Umsetzung selbst betreffen könnte. Psychologen und Marktforschern ist dieses Phänomen schon lange als Kluft zwischen Verbraucher und Bürger (neudeutsch: consumercitizen gap) bekannt.
Aber es gibt doch gar kein finanziell erreichbares Angebot, lautet dann der Einwand. Immerhin sind Biofleisch oder solches mit Tierschutzsiegel deutlich teurer als die Standardware. Auf jeden Fall teurer, als es die geäußerten Zahlungsbereitschaften der Verbraucher hergeben, die kaum über 20 % Mehrpreis hinausgehen. Immerhin gibt es in diesem Preisbereich, wie der Markt für Bioprodukte zeigt, durchaus reale Käuferpotentiale. Aber für ein bisschen mehr Tierwohl?
Mehr als dieser Erklärungsansatz überzeugt ein anderer. Er tut sich auf, wenn man nicht in die Geldbeutel schaut, sondern in die Köpfe der Verbraucher. Die sind nämlich (aus ihrer Sicht) keinesfalls verrückt, sondern smart. Sie behalten ihr Geld und drücken die Tierwohl-Verantwortung auf die Produzenten ab, indem sie einfach nichts davon wissen wollen. Was passiert im Kopf eines Menschen, der Fleisch einkauft? Das haben Forscher der Bonner Professur für Marktforschung der Agrar- und Ernährungswirtschaft im vorigen Jahr genauer untersucht. Gruppen von Verbrauchern wurden Videos aus Ställen gezeigt und anschließend darüber diskutiert. Die Ergebnisse sind ungemein interessant – auch für die Frage, wie man denn den Verbrauchern die moderne Tierhaltung am besten nahebringt oder ob man dies überhaupt tun sollte.
Jeder Verbraucher lebt in einem Spannungsfeld zwischen dem Fleisch auf dem Teller und dem lebendigen Tier, sagt der Psychologe Ingo Härlen. Lust auf Fleisch ist eine »Urverfassung« des Menschen. Eine andere Verfassung ist allerdings das moralische Gepäck, das er im Hinblick auf Tiere mitschleppt. Das Ergebnis dieser Spannung sind Schuldgefühle, die man irgendwie loswerden will. Abwehrprozesse werden mobilisiert. Man redet sich ein, dass man ja verantwortungsvoll und nachhaltig einkaufe, dass es dem Tier, dessen Fleisch man da essen will, ganz bestimmt gut gegangen sei. Dass man, wenn man nur genug Geld hätte, ganz bestimmt zu »Bio« wechseln würde. Dass man als kleines Rädchen im Getriebe an der Situation sowieso nichts ändern könne. Dass man überhaupt nur dreimal in der Woche Fleisch esse. Und so weiter.
Bei vielen Konsumenten schwingt auch ein nicht zuletzt über die Medien gelerntes Gut-Böse-Schema mit: Gut ist der Bauer, der friedlich in einer Gemeinschaft mit seinen Tieren lebt und diese draußen herumlaufen lässt. Böse ist der anonyme agrarindustrielle Massentierhalter. Auf den kann man seine unbewussten Schuldgefühle – denn es gibt ja die Bilder und Berichte von Missständen – wunderbar projizieren. Dann sind die Verhältnisse wenigstens klar, und der Mensch lebt wieder im Einklang mit sich selbst.
Viele Landwirte meinen, man müsse den Verbrauchern nur die Realität der Produktion zeigen, und schon sei alles in Ordnung. Was geschieht, wenn die unbewusst-schuldbewussten Menschen mit Stallvideos konfrontiert werden? Lässt man sie damit allein, nimmt die Spannung eher noch zu. Die gewohnten Abwehrmechanismen laufen ins Leere, weil die gelernten Schemata der Einordnung und Verdrängung nicht mehr funktionieren. Keiner sagt den Beobachtern, ob das Video eine »gute « oder eine »böse« Situation zeigt. Wie soll ein Laie auch einschätzen können, ob sich die Tiere gut oder schlecht fühlen? Das Fehlen eines Rahmens, einer Kommentierung erzeugt Orientierungslosigkeit und Irritation. Somit – sagt der Psychologe Ingo Härlen – können unkommentierte Videos für die Auseinandersetzung mit der Tierhaltung ebenso problematisch sein wie Berichte, in denen Missstände angeprangert werden.
Viel positiver kommt dagegen an, wenn ein Landwirt solche Bilder selbst erläutert. Dann besteht die Chance, dass Verbraucher bereit sind, ihre bisherige Haltung zumindest kurzfristig zu reflektieren. Dann lässt sich vielleicht Verständnis wecken für den Zusammenhang zwischen den rationellen Haltungsbedingungen, die ja nicht Tierleid bedeuten, dem Fleischpreis und dem notwendigen Familieneinkommen. Allerdings: Wer die mit diesem Nachdenken verbundene Spannung nicht mehr aushält, ist höchstwahrscheinlich auf dem Weg zum Vegetarier. Und damit hätte der Landwirt das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich wollte. Menschen bereitet es seit jeher keine Probleme, ihre Meinungen auch mal zu ändern. Legendär ist der Ausspruch des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer: »Was geht mich mein dummes Geschwätz von gestern an?« Was ist dabei, wenn ein und derselbe Mensch zu ein und demselben Thema gleichzeitig unterschiedliche Einstellungen hat? Dass sich der überwiegende Teil der Fleischkäufer im Supermarkt gleichzeitig gegen »Massentierhaltung « ausspricht, könnte man als persönlichen Entlastungsmechanismus zunächst so belassen. Problematisch wird es aber, wenn solche inneren Widersprüchlichkeiten auch in der öffentlichen Auseinandersetzung ohne Weiteres möglich sind. Bisher war allein das rational erzeugte oder zumindest verbrämte Argument die Voraussetzung, in Diskussionen überhaupt akzeptiert zu werden.
Es geht noch weiter: Glaubwürdigkeit wird nur bei hohem emotionalen Engagement verliehen, verbunden mit (scheinbar oder tatsächlich) geringen Gestaltungsmöglichkeiten, sagt Jens Lönneker von der Kölner Marktforschungsagentur rheingold salon (Grafik links). Betroffenen und Nichtregierungsorganisationen wird diese in einer Umfrage mit Werten um 80 % zugebilligt. Bei all dem emotional geprägten Durcheinander scheint aber eine große Sehnsucht nach Verbindlichkeit zu bestehen. Unabhängigen Experten und Wissenschaftlern aus Institutionen wird ebenfalls in hohem Maße vertraut. Nicht aber Politikern und Wirtschaftsleuten, die als emotional nicht authentisch gelten.
Lönnecker nennt das Phänomen die »Psychologisierung des öffentlichen Raumes«. Diese präge die Bilder der öffentlichen Meinung. Privates wird zunehmend öffentlich gemacht, der öffentliche Raum wird gleichsam privatisiert. Damit steigt die Akzeptanz der Emotionen und nicht rationalen Argumente, die sich von jetzt auf gleich ins Gegenteil verkehren können. Schlüssigkeit oder Logik sind Begriffe von gestern. Nebenbei: Auch deshalb ist es so schwer, Kritikern der Landwirtschaft mit Daten und Fakten zu kommen.
Soziale Medien verstärken diese Entwicklung durch Vervielfältigung. Sie fördern – so drückte es der Kabarettist Dieter Nuhr aus – Versuche, den anderen nicht mit Argumenten zu überzeugen, sondern (etwa in Shitstorms) abzustempeln. Gerade in den Kommentarfunktionen im Inter-net oder noch mehr auf Facebook ist eine rationale Auseinandersetzung immer weniger zu erkennen. Diese ist aber die Voraussetzung, bürgerliche Verantwortung wahrnehmen zu können. Für vernünftige Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse in Gesellschaft und Politik ist das keine gute Botschaft.
Inkonsequenzen haben zunehmend System, weil der öffentliche Raum der rationalen Diskussion von privaten Befindlichkeiten zugemüllt wird und somit auch die öffentliche Meinung davon beeinflusst, wo nicht schon bestimmt wird.
Wenn ein Kind schreit: »Ich will aber nicht«, so kommen Eltern damit zurecht. Das bleibt im Privaten. Wo aber Wähler öffentlich »Wir haben es satt« deklamieren, ignoriert dies kaum ein Politiker mehr. Nur zu sagen, was man nicht will, scheint weithin auszureichen. Auf dieser Basis gegedeihen populistische Parteien in ganz Europa. Wie steht es in diesem Zeitalter der in aller Öffentlichkeit ausgetragenen und inszenierten Emotionen mit unserer eigenen Branche? Wer weckt mehr Emotionen, wer hat die besseren Bilder – der Biobetrieb oder der »moderne«? Eben. Allein schon die Bezeichnung weckt Gefühle. Mit Bio seien Lebensideale verbunden, sagt Lönneker, »gesünder, langsamer, pfleglicher«. Bio treffe die aktuelle Anti-Stress-Sehnsucht der Menschen. »Konventionelle « oder »moderne« Landwirtschaft dagegen stehen für den Tretmühlencharakter der heutigen Arbeitsprozesse.
Auch dies ist natürlich eine Projektion. Die Menschen kaufen ja deshalb nicht wesentlich mehr Bioprodukte. Aber sie erwarten – wie beim Fleisch – von den Produzenten und letztlich von der Politik eine Berücksichtigung ihrer emotionalen Befindlichkeiten. Beide sollen den inneren Widerspruch zwischen Biosehnsucht und Geizmentalität auflösen. Da sie es aber nicht können, fokussiert die zunehmend von Emotionen gesteuerte öffentliche Meinung zunächst den Landwirt bzw. das »agroindustrielle System«. Und erwartet dann von der Politik, Änderungen in Form neuer Produktionsauflagen zu verordnen. Der Lebensmittelhandel, der die größte Angst vor dem »Pranger« hat, agiert in vorauseilendem Gehorsam und erhöht Standards. Beides zwingt wiederum die Landwirte zu noch mehr Rationalisierung. Die Eine-Million-Euro-Frage ist eigentlich: Wie kommen wir aus diesem Schlamassel wieder heraus?
Thomas Preuße
Quelle: DLG-Mitteilungen 1/2016